Mit Vision und Mission: Wie Sauerland und Siegen-Wittgenstein nachhaltige Reiseziele wurden

Das Sauerland und Siegen-Wittgenstein haben sich 2023 gemeinsam auf den Weg gemacht, um sich als nachhaltige Reiseziele zertifizieren zu lassen. Zuvor war in Nordrhein-Westfalen nur die Nordeifel diesen Schritt gegangen. Im Frühjahr 2024 haben die beiden südwestfälischen Regionen ihr Ziel erreicht. Wie sie es geschafft haben, welche Hürden sie überwinden mussten und was sie noch geplant haben, berichten Anna Galon, Nachhaltigkeitsbeauftragte des Sauerland-Tourismus, und Jule Kampen, Nachhaltigkeitsbeauftragte des Touristikverbandes Siegen-Wittgenstein.

Nachhaltigkeitsbeauftragte des Sauerland-Tourismus, Anna Galon
© sabrinity

Was war Eure Motivation für die Zertifizierung?

Anna Galon: Sauerland und Siegen-Wittgenstein verstehen sich zusammen als „Deutschlands inspirierende Outdoor-Region“. Unsere beiden Tourismusverbände werben mit Produkten, Angeboten und Erlebnissen, die ihren Reiz aus den schönen Landschaften, aus Weite und Raum in der Natur, den kulturellen Traditionen, heimischen Produkten und regionalen Besonderheiten ziehen. Diese natürlichen und kulturellen Schätze zu erhalten, liegt also in unserem ureigenen Interesse.

Gleichzeitig müssen beide Destinationen im Rahmen der Tourismusförderung die Interessen aller beteiligten Institutionen, Betriebe und Vertretungen der öffentlichen Hand berücksichtigen. Nachhaltigkeit mit ihrer ökologischen, ökonomischen und sozialen Dimension ist daher für uns – zusammen mit Qualität – eine Querschnitts- und Daueraufgabe, für uns absolut handlungsleitend. Das haben wir auch schon in der gemeinsamen Tourismusstrategie 2019+ festgeschrieben.

Nachhaltigkeit mit ihrer ökologischen, ökonomischen und sozialen Dimension ist für uns eine Querschnitts- und Daueraufgabe. 

Anna Galon
Nachhaltigkeitsbeauftragte Sauerland-Tourismus e. V.

Um diese strategische Überlegung in die Praxis zu überführen, haben wir uns für den strukturierten Zertifizierungsprozess mit dem Institut TourCert entschieden. Gerade der Prozessablauf mit seinen einzelnen Schritten war für uns entscheidend: die akribische Erhebung eines Status Quo, die Einbindung aller Interessengruppen und der Aufbau eines Partnernetzwerks, die Gründung eines gemeinsamen Nachhaltigkeitsbeirats als strategisches Gremium sowie die Entwicklung individueller Verbesserungsprogramme für jede Region.

Die Auszeichnung als „Nachhaltige Reiseziele“ für den erfolgreich absolvierten Prozess ist dabei das i-Tüpfelchen, auf das wir stolz sind. Vor allem aber haben wir in dem Prozess viel über uns als Verbände und unsere Regionen gelernt. Wir messen uns fortan an uns selbst und werden uns in Sachen Nachhaltigkeit immer weiter verbessern.

Nachhaltigkeitsbeauftragte des Touristikverbands Siegen-Wittgenstein, Jule Kampen
© Marcel Alhäuser/vyn marketing GmbH CC-BY

Sowohl das Sauerland als auch Siegen-Wittgenstein sind klassische Outdoor-Regionen. Hat Euch das Eure Arbeit an der Zertifizierung erleichtert oder spielt es im Prinzip keine Rolle, ob man eine Outdoor-Region oder eine Städtedestination zertifizieren lassen möchte?

Jule Kampen: Ein nachhaltig ausgerichteter Tourismus bringt ökologische, ökonomische und soziale Aspekte in Einklang – und das gilt für eine Outdoorregion ebenso wie für eine Städtedestination. Natürlich kann und muss jede Region die drei Ebenen der Nachhaltigkeit für sich selbst betrachten, Prioritäten setzen und wichtige Handlungsfelder bestimmen. Aber dafür ist der Prozess ja gedacht: sich als Tourismusverband selbst ein Bild zu machen, wie der Stand der Dinge in Sachen Nachhaltigkeit in der Destination ist und wie Schritt für Schritt über konkrete Verbesserungsmaßnahmen weitergearbeitet werden kann.

Wo lagen für Euch die größten Herausforderungen bei der Zertifizierung?

Galon: Um eine nachhaltige Entwicklung in einer Destination zu etablieren und mit vielen engagierten Partnerbetrieben erlebbar zu machen, braucht es eine gemeinsame Vision und Mission. Und diese zu finden – oder sagen wir auf den Punkt zu formulieren – ist gar nicht so einfach. Im Lauf des Prozesses haben wir und der Nachhaltigkeitsbeirat uns auch mit der Frage beschäftigt, wie wir Nachhaltigkeit und ihre drei Ebenen für alle verständlich kommunizieren und darstellen sowie welche Elemente dazu gehören. Wir haben daher ein gemeinsames Positionspapier entworfen, das unsere Sicht auf Nachhaltigkeit im Sauerland und Siegen-Wittgenstein anschaulich darstellt und die zentralen Bausteine erläutert. Eine Art roter Faden für eine grüne Vision in der Region.

Wenn sich eine ganze Region zertifizieren lassen möchte, müssen viele Partner eingebunden werden. Wie ist Euch das gelungen? Musstet Ihr viel Überzeugungsarbeit leisten oder haben sich viele Partner aktiv bei Euch gemeldet, weil sie dabei sein wollten?

Kampen: Wir haben von Beginn des Prozesses an alle relevanten Interessensgruppen eingebunden. Zum Beispiel waren die Vertreterinnen und Vertretern aller touristischen Orte, der IHKs, der Naturparke, des DEHOGA sowie verschiedener Projektbüros zu unserer Kick-off Veranstaltung eingeladen, um aus erster Hand vom Zertifizierungsprozess zu erfahren und als Multiplikatoren die Infos in die Fläche zu tragen. Die Ansprache der Partnerbetriebe lief über die Tourist-Infos.

An unseren ersten Online-Infoveranstaltungen haben sich auch erfreulich viele interessierte Betriebe beteiligt. Wir hatten das Gefühl, dass sich bereits viele Übernachtungsbetriebe, gastronomische Betriebe und Ausflugsziele mit nachhaltigen Themen beschäftigen. Viele von denen, die bereits ein Nachhaltigkeitssiegel hatten, sind aus Überzeugung unserem Netzwerk beigetreten. Andere hatten unter Umständen kein „Packende“, um ihre nachhaltige Arbeit strukturiert sichtbar zu machen – und haben daher gern und engagiert die Qualifizierungsmaßnahme „TourCert Qualified“ als Einstieg genutzt.

Mit der Verleihung des Titels „Nachhaltiges Reiseziel“ hat sich unser Einsatz auch weiter herumgesprochen und es melden sich nach wie vor aktiv potenzielle Partnerbetriebe. Wir haben grundsätzlich das Gefühl, dass Nachhaltigkeit in der Branche im Sauerland und Siegen-Wittgenstein ein wichtiges und ernstgenommenes Thema ist. Überzeugungsarbeit müssen wir daher nicht leisten, aber hin und wieder erklären, warum wir vor allem gemeinsam und im Netzwerk viel erreichen können.

Was habt Ihr im Zertifizierungsprozess konkret angestoßen?

Galon: Wir sind stolz auf das Partnernetzwerk, das wir gegründet haben und das immer weiterwachsen soll. Es soll ein Ort für Austausch, Fortbildung und gemeinsames Empowerment im Sinne der Nachhaltigkeit sein. Gemeinsam müssen wir es natürlich mit Leben und Inhalten füllen. Auf Ebene der Verbände beziehungsweise unserer Teams haben wir nachhaltiges Verhalten und Mitdenken so weit etabliert, dass es bei vielen täglichen Entscheidungen automatisch handlungsleitend ist – sei es in der Büroökologie, bei der Planung und Erstellung unserer haptischen Informationsprodukte, bei der digitalen Transformation, bei Dienstreisen und in vielen weiteren Bereichen.    

 

Sonnenstrahlen über der hügeligen Landschaft im Ebbegebirge bei Meinzerhagen im Sauerland
© Tourismus NRW e.V.

Welche Rückmeldungen habt Ihr nach der Zertifizierung erhalten und spürt Ihr auf Gästeseite schon irgendwelche Auswirkungen? Wie kommuniziert Ihr das Thema Nachhaltigkeit beziehungsweise wie inszeniert Ihr Euch als nachhaltiges Reiseziel?

Galon: Zu unserer Zertifizierung gab es von vielen Seiten Glückwünsche und Anerkennung. Natürlich präsentieren wir das Siegel auf unserer Internetseite und in unserer Kommunikation. Auch unsere Partnerbetriebe haben auf allen Kanälen ihren Erfolg als ausgezeichnete „Partnerbetriebe Nachhaltiges Reiseziel“ gefeiert – und das zu Recht, schließlich machen sie mit ihrem Engagement Nachhaltigkeit in der Fläche für Gäste erlebbar. Allerdings ist Nachhaltigkeit bei uns kein Kampagnenthema an sich, sondern die Überzeugung und Grundlage unserer touristischen Arbeit. Dennoch möchten wir in Zukunft nachhaltige Erlebnisse, Produkte und Angebote besser bündeln und deutlicher aufzeigen und kommunizieren. Wie genau das aussehen kann, das erarbeiten wir noch im Rahmen unseres Verbesserungsprogramms.

Wie geht es bei Euch nun weiter? Die Zertifizierung war doch sicherlich noch kein Abschluss.

Kampen: Die Zertifizierung ist selbstverständlich erst der Anfang. Wir kennen den Status Quo der Nachhaltigkeit in den beiden Regionen. Er ist unser Maßstab, wir möchten uns sukzessiv verbessern. Dazu werden wir als Verbände unsere Verbesserungsprogramme Aufgabe für Aufgabe umsetzen. Ebenso werden wir zusammen mit dem Nachhaltigkeitsbeirat erörtern, wie die nachhaltige Vision weiter in die Fläche und bestenfalls auch in weitere Aktionsräume getragen werden kann. Und natürlich werden wir unser Partnernetzwerk weiter ausbauen und stärken. In drei Jahren können wir uns um eine Rezertifizierung bemühen – mit noch mehr Wissen, noch mehr Erfahrung und beständigem Einsatz.

Nachhaltige Entwicklung heißt nicht, dass man sofort in allen Bereichen unfehlbar sein muss. 

Jule Kampen
Nachhaltigkeitsbeauftragte Touristikverband Siegen-Wittgenstein e.V.

Wenn andere Regionen Eurem Beispiel folgen wollen: Wo sollten sie Eurer Erfahrung nach als erstes ansetzen? Was sollten sie beachten?

Kampen: Es passiert in vielen Regionen auf touristischer Ebene eine ganze Menge, was nachhaltige Wirkung hat. Oft ist man sich dessen nur nicht bewusst. Viele Regionen sind weiter, als sie vermuten. Gerade weil viele potenzielle Partner sich intensiv und aus Überzeugung mit nachhaltigen Themen beschäftigen. Daher ist es auf jeden Fall sinnvoll, den Anfang zu wagen und zunächst den Status Quo zu erheben. Nachhaltige Entwicklung heißt ja nicht, dass man sofort in allen Bereichen unfehlbar sein muss, sondern dass man die Chancen und Herausforderungen erkennt und den festen Willen hat, sich jeden Tag zu verbessern. Dazu ist ein fortlaufender Prozess gedacht: Es gibt Kontrollen, es wird nachjustiert, es wird stetig verbessert.

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